Verena Eigenmann

Verena Eigenmann
Bewohnerin

„Ich habe das Gefühl, das Leben ist gar nicht so schlecht.“

Verena Eigenmann ist seit fünf Jahren …

„Ich habe das Gefühl, das Leben ist gar nicht so schlecht.“

Verena Eigenmann ist seit fünf Jahren im süssbach. Sie erinnert sich an viele glückliche Momente ihres 92-jährigen Lebens. Das Schlechte muss man vergessen, sagt sie. Aber wie vergisst man 50 Jahre Ehe?

Verena Eigenmann ist sehr gepflegt, sie trägt schöne Kleidung und eine dezente Perlenkette. Jeden Morgen macht sie einen Tagesplan, räumt ihr Zimmer auf und geht spazieren, gerne ans Wasser Richtung Aare. Beim Schaufensterbummel freut sie sich über die schönen Sachen: „Ich kaufe nicht, aber ich schau mir das an und habe Freude daran. Ich habe nicht so viel Geld, aber das ist ja egal.“ Lesen, handarbeiten und Musikhören stehen auch auf dem Plan. Beim Stichwort Musik leuchtet Verena Eigenmann regelrecht auf: „Ich höre immer Musik, immer. Entweder Mozart oder Beethoven, wunderschöne Musik, die glücklich macht. Das ist so beruhigend, wenn Sie Mozart hören. Das ist meine Lebenslust.“ Die Lebenslust begann allerdings mit straffer Disziplin. Ihr Klavierlehrer war nett, aber streng, und in ihrer Familie spielte jeder ein Instrument, weil sich das so gehörte: Ihre Mutter und sie selbst spielten Klavier, der Vater Cello und der Bruder Flöte. Einmal pro Woche mussten sie zusammenkommen, um den Eltern beim Musizieren zuzuhören. Keine Widerrede.

So gehorsam war sie aber nicht immer. „Ich war eine ganz schlimme Kleine“, erinnert sie sich. Als Kind ging sie oft zum Bahnhof, weil sie die Dampfloks so liebte: „Wenn die kamen, dann war ich immer da und hab geschaut, bis der Dampf rauskam und dann war ich ganz schwarz. Und die Mutter hat geschimpft: Wie läufst du herum, du bist doch ein Mädchen, kein Bube! Aber es hat nichts genützt, jeden Tag musste ich schauen, ob die Dampflok kommt, die hat gepfiffen und gedampft.“ Ein Kindermädchen kümmerte sich um die „schlimme Kleine“, wusch sie und zog ihr saubere Sachen an, obwohl die am nächsten Tag ohnehin wieder schwarz waren.

Als die Kleine allmählich gross wurde, schickte ihre Mutter sie ins Welschland, um Französisch zu lernen, anschliessend absolvierte sie eine Lehre zur Drogistin. Mit 25 verliebte sie sich. Er arbeitete als Mechaniker bei der Swissair. Sie heirateten, bekamen eine Tochter, zügelten nach Eschenz, später nach Würenlos bei Zürich. Samstags waren sie mit dem eigenen Segelboot auf dem Zürichsee unterwegs und im Sommer in Spanien. „Das war so schön und friedlich, wir waren ganz ruhig und haben das Meer und den Wellengang genossen. Das vergesse ich nie.“ Alles hätte so schön sein können, – wenn nicht die extreme Spielsucht ihres Mannes gewesen wäre und seine Gewalttätigkeit. „Mein Mann, der war einfach jähzornig. Das war schlimm und da musste ich ganz ruhig sein. Darum mag ich, dass es schön ruhig ist auf dem Wasser.“ Verena Eigenmann ging zu einer Beratungsstelle und man riet ihr, den Mann sofort zu verlassen, aber: „Ich kann nicht einfach weglaufen, das geht nicht, ich habe auch Verantwortung, habe ein Haus. Ja nu, ich lebe noch.“

Nach 50 Jahren Ehe starb ihr Mann, und die Witwe beschloss: „Ich fange mein Leben neu an, ich will anders leben, die Natur sehen, das Wasser, das Rauschen des Meeres.“ Ihr fester Wille, sich nur an die schönen Seiten des Lebens zu erinnern, hilft ihr dabei. Voller Begeisterung erzählt sie von ihrer Konfirmation, als sie eine Schweizer Uhr geschenkt bekam und es danach ein Festessen gab. Von der Modelleisenbahn, die ihr Vater gebaut hat. Sie ist stolz darauf, nach einer schweren Operation das Laufen wieder gelernt zu haben, und dankbar für die vielen kleinen Alltagsfreuden: ihre Freundinnen, mit denen sie im süssbach täglich reden und lachen kann. Ihre Tochter mit Familie, die sie regelmässig besuchen. Auf einem Tisch in ihrem Zimmer sammelt sie die schönen Erinnerungen mit kleinen Gegenständen und Fotos. Ein Foto ihres Mannes steht auch darauf. „Ich schaue ihn nicht so viel an. Das muss ich ehrlich sagen“. So einfach ist das.

Arnold Wyssling

Arnold Wyssling
Bewohner

„Alle sind immer freundlich und begegnen uns mit einem Lächeln.“

Arnold Wyssling, 81 Jahre alt, …

„Alle sind immer freundlich und begegnen uns mit einem Lächeln.“

Arnold Wyssling, 81 Jahre alt, erobert die Herzen seiner Mitmenschen vom ersten Moment an. Das war auch damals so, als er eine schöne Frau im Zug traf: Drei Tage später kaufte er ihr ein Kleid für die Hochzeit und ist noch immer verliebt wie am ersten Tag.

Wer Arnold Wyssling trifft, hat sofort gute Laune. Er sprudelt nur so vor Energie, lacht viel und ansteckend und hat gleichzeitig ein feines Gespür für sein Gegenüber und seine Umgebung. Er fühlt sich im süssbach wie in einem „wunderschönen Schlosshotel“. Seit fast zwei Jahren lebt er jetzt hier, zusammen mit seiner Frau Lisbeth. Sie ist ihm damals gleich aufgefallen, im Zug nach St. Moritz. Er zögerte nicht lang, lud sie in St. Moritz zum Kaffee ein, schrieb ihr einen Brief … das ist jetzt etwa 50 Jahre her. Sie konnte zwar keine Kinder bekommen, aber dafür gut kochen. „Es ist einfach ein Traum, mit ihr zu sein. Lisbeth ist eine Lustige, sie ist auf alles eingegangen, das hat immer funktioniert vom ersten Tag an.“ Mit ihr zusammen konnte er in Kanada sogar in den Nachtklub gehen, und als sie gemeinsam in Hamburg waren, gab sie ihm bei seinem Alleingang auf der Reeperbahn in weiser Voraussicht nur zehn Mark mit.

Sie sind oft und gerne zusammen verreist, Arnold hat alles organisiert und Lisbeth hat es mitgemacht, Kaffeefahrten, Flussschifffahrten – die Donau entlang von Passau bis ans Schwarze Meer –, auch Transatlantiküberquerungen von Rotterdam bis Montreal/Kanada. Er erzählt so lebhaft und detailreich, als sei er eben erst von Bord der MS Batory gegangen, auf der er mehrmals Passagier war. Bekannt wurde das polnische Motorschiff durch den Beinamen „lucky ship“, glückliches Schiff, weil es alle Gefahren des stürmischen Meeres gemeistert hat; und ebenso hat Arnold Wyssling im Leben stets den richtigen Kurs genommen.

Seine Erinnerungen und Gedanken hält der 81-Jährige in langen, berührenden Briefen fest, die er schon seit seiner Jugend täglich schreibt. Nebenher findet er Zeit, seine zahlreichen Kontakte zu pflegen. Einsamkeit im Alter – davon hat er in der Zeitung gelesen. Für ihn war das nie ein Thema. Schon in der Klosterschule Toggenburg begeisterte er sowohl die Mitschüler als auch die Menzinger Schwestern, die dort als Lehrerinnen tätig waren, mit jugendlichem Charme. „Die haben geschaut, ob man anständig ist mit dem Personal, mit den Leuten und so, dann hat man ein Gespräch geführt, die Lehrerin hat ein Schreiben gemacht und dann war das gut.“ Später arbeitete er 38 Jahre lang im Kabelwerk Brugg und erlebte beim Prüfen von Telefonkabeln ein Stück Schweizer Industriegeschichte hautnah mit.

Die Herausforderungen, die ihm im Laufe seines Lebens begegnet sind, hat Arnold Wyssling immer pragmatisch, unbefangen und kreativ gemeistert. Er ist Mitglied im Gospel Center Brugg, einer evangelischen Freikirche: „Wenn ich ein Problem habe, können wir eine Seelsorge hinzuziehen, und wenn wir in den Kabelwerken ein Problem hatten, konnten wir diskutieren und dann war es weg. Man muss eben rechtzeitig Hilfe holen, nicht im letzten Moment.“

So glücklich wie sein bisheriges Leben, so glücklich ist auch sein jetziges. Er ist in den süssbach gekommen, weil Lisbeth „schlecht beieinander war. Sie wäre nicht mehr am Leben, wenn sie hier nicht sofort reagiert hätten.“ Seiner Dankbarkeit verleiht er wie immer in Form von Briefen Ausdruck, die er dem süssbach schreibt. Wir dürfen daraus zitieren:

„Seit meinem Eintritt fühle ich mich sehr gut betreut und aufgehoben wie in einem wunderschönen Schlosshotel. Aus tiefstem Herzen sind meine Frau und ich sehr dankbar, dass wir hier sein dürfen.“

Adriana Weber

Adriana Weber
Mitarbeiterin Aktivierung und IDEM-Verantwortliche

„Der Mensch wird am Du zum Ich“, Martin Buber

Adriana Weber, 55, haben wir schon vor sieben Jahren …

„Der Mensch wird am Du zum Ich“, Martin Buber

Adriana Weber, 55, haben wir schon vor sieben Jahren im süssbach getroffen und darüber geschrieben, und im Wesentlichen hat sich nicht viel geändert für sie. Sie liebt ihre Arbeit mit Herz und Seele und möchte das auch weitergeben.

Das Zitat des Sozialphilosophen Martin Buber begleitet Adriana Weber schon seit langem. Bei ihrer Arbeit im süssbach erlebt sie die Bedeutung auf sehr konkrete Art und Weise: „Hier leben Menschen mit Altersbeschwerden und Krankheiten. In jedem von ihnen steckt etwas, das mir ein Vorbild ist: Gelassenheit, Tapferkeit, Humor, Hilfsbereitschaft, Dankbarkeit, Zufriedenheit, ganz im Moment zu leben.“ Die Fachfrau aktivierende Betreuung (FAB) ist sowohl in der Aktivierung als auch in der Freiwilligenarbeit angestellt, und in ihrer Freizeit besucht sie zusätzlich noch regelmässig Menschen im süssbach als IDEM. „Im Besuchsdienst bei einer Person darf ich teilhaben am Leben des Gegenübers und ihr mehr Lebensqualität schenken. So werde ich zur Beschenkten.“ In der Aktivierung dagegen werden den Bewohnerinnen und Bewohnern abwechslungsreiche Aktivitäten angeboten: singen, spielen oder je nach Jahreszeit Erdbeerkonfitüre kochen oder Balkonkästen bepflanzen. Es geht darum, die Fähigkeiten der Menschen wieder herauszulocken und zu schauen, was sie früher gerne gemacht haben. Gleichzeitig wird die Gemeinschaft auf den Stationen gefördert.

Der zweite Aufgabenbereich von Adriana Weber betrifft die Freiwilligenarbeit. Sie betreut die Interessenten, die bereit sind, sich ehrenamtlich im süssbach zu engagieren, vom Erstgespräch und der zweimonatigen Probezeit, in regelmässigen Austauschtreffen über die jährlichen gemeinsamen Dankesessen bis zur Verabschiedung. Ein bis zwei Anfragen pro Monat erhält sie. „Wichtig ist die Freude am Menschen. Man nimmt sich selber zurück, denn die Hauptperson ist die Person, die besucht wird. Ich sage den Freiwilligen meistens: Ihr seid wie das Nähkörbchen oder der Werkzeugkoffer. Heute braucht der Bewohner die Schere und das nächste Mal vielleicht die Nadel oder den Hammer. Was möchte er gern, was macht ihm Freude; vielleicht ist's jemand, der immer Spazierengehen oder immer Spiele machen möchte. Darauf muss man sich einlassen können und psychisch stabil sein, weil man sich mit Alter und Tod auseinandersetzt.“

In das liebevolle Zusammensein mit älteren Menschen ist „der Herzensmensch“, wie sie sich selbst bezeichnet, seit ihrer Kindheit im Drei-Generationen-Haushalt hineingewachsen. „Ich hatte eine innige Beziehung zu meinen Grosseltern. Daher ist es für mich selbstverständlich, als Freiwillige älteren Menschen durch meine Besuche Abwechslung und Freude zu bringen.“ Sie ist in Brugg verwurzelt, sie und ihr Mann leben hier, die beiden erwachsenen Kinder wohnen nicht weit entfernt. So ist es für sie naheliegend, sich im Ort zu engagieren. Anstatt in einen Verein zu gehen oder Museen zu besuchen oder einen Töpferkurs zu machen, erklärt Adriana Weber, verbringe sie ihre Lebenszeit lieber IDEM – im Dienste eines Mitmenschen.

Heinz Meuwly

Heinz Meuwly
Bewohner

„Ich bin zufrieden, so wie ich bin; mehr brauche ich nicht.“

Heinz Meuwly, im Dezember 1941 …

„Ich bin zufrieden, so wie ich bin; mehr brauche ich nicht.“

Heinz Meuwly, im Dezember 1941 geboren, ist vor zwei Jahren in den süssbach gekommen, weil der Tod seiner Frau ihm fast das Herz gebrochen hat. Früher arbeitete er Nachtschicht bei einem Sicherheitsdienst. Heute hilft er jeden Tag tatkräftig in der Küche seiner Station mit.

Heinz Meuwly ist bisher immer gut zurechtgekommen im Leben; grössere und kleinere Alltagsprobleme löste er zusammen mit seiner Frau und zum Wohl von anderen. Aufgewachsen bei seinen Eltern in Zufikon bei Bremgarten arbeitete er als junger Bursche auf einem Bauernhof und nach der Hochzeit bei einem Sicherheitsdienst, immer nachts, in Zürich und Baden, im Dunkeln in den grossen Fabrikhallen, da sei er schon manchmal erschrocken … Schöne Jahre waren das, aber nichts für immer. Zumal seine Frau nicht so glücklich war mit der Situation: „Am Tag konnte ich nicht immer gut schlafen und dann hat die Frau gesagt, sie wäre froh, wenn ich wechsle. Da habe ich geschaut, dass ich ins Kabelwerk komme.“ Da war er dann 35 Jahre lang, davon 15 Jahre als betriebsinterner Briefträger. Seine Frau hat derweil in einem Altersheim und später in der mobilen Seniorenbetreuung gearbeitet, und zusammen haben sie in einer Tagesklinik Kinder betreut: „Wir haben keine Kinder gehabt, aber wir sind trotzdem glücklich gewesen. Einmal war da so ein ganz kleines, das war gerade zwei Monate alt, das haben wir gerngehabt.“

Vor lauter Arbeit ist bei den Meuwlys die Freizeit manchmal zu kurz gekommen. Nach der Pensionierung haben sie das nachgeholt mithilfe des Generalabonnements der SBB. „Da sind wir ins Tessin, mal nach Genf gegangen, mal nach Lausanne. Die ganze Schweiz haben wir bereist. Wir haben nicht so Ferien gemacht, wo man woanders schläft. Wir sind einfach gegangen und dann wieder heim.“

Und dann, nach 51 Jahren Ehe, starb seine Frau. Ihr letztes Lebensjahr verbrachte sie im Rollstuhl, ihren Mann immer an ihrer Seite, immer, im Spital, bei den vielen Arztbesuchen, im Haushalt, in der Küche, wo sie zusammen Rösti und Apfelmus gemacht haben. Nach ihrem Tod kam der Zusammenbruch, eine Herzattacke, ein Stent, drei Wochen Reha. „Ich bin einfach nicht zurechtgekommen“, sagt Heinz Meuwly, „mit Computer und Handy und so Zeug.“ Ohne seine Frau war das einfach nicht mehr seine Welt. Sein Neffe hat ihn im süssbach angemeldet. „Jetzt geht’s mir eigentlich wieder besser“, sagt er, man richtet ihm jeden Tag die Tabletten, und damit ihm nicht langweilig wird, hilft er in der Küche, Tisch decken, Essen holen, abwaschen für mehr als 20 Personen. „Und hier gehe ich immer auch turnen, in der Pro Senectute. Man muss etwas machen, ich bin ja jetzt schon 81, man muss sich bewegen. Andere hocken vor dem Fernseher und gehen nicht laufen, da dreh ich durch.“

Seine Frau ist immer bei ihm. Jeden Tag geht er auf den Friedhof. Bewegung statt Bildschirm ist wohl eins der besten Rezepte für ein gesundes zufriedenes Leben.

Elisabeth Brunnschweiler

Elisabeth Brunnschweiler
Kundin der Tagesbetreuung

Elisabeth Brunnschweiler, Jahrgang 1952, kommt seit 2017 zweimal pro Woche in die Tagesbetreuung. …

Elisabeth Brunnschweiler, Jahrgang 1952, kommt seit 2017 zweimal pro Woche in die Tagesbetreuung. Ihr Mann Otto, mit dem sie in Brugg lebt, bringt sie in den süssbach und holt sie wieder ab.

Seit einer Hirnblutung ist Elisabeth Brunnschweiler nicht mehr ganz so mobil wie früher, doch sie beteiligt sich mit großer Freude an den abwechslungsreichen Aktivitäten der Tagesbetreuungsgruppe: Basteln, Stuhlgymnastik, Gesellschaftsspiele und vieles mehr. Coronabedingt kann die Gruppe nicht mehr gemeinsam kochen und bekommt das Essen aus der Küche gebracht, aber sie sieht, wie so oft in ihrem Leben, auch die positive Seite: «Da dürfen wir bestellen, was wir wollen. Und das Essen ist gut hier sehr gut, das ist für mich eine große Freude.»

Die gebürtige Grabserin hat die bemerkenswerte Gabe, ihr Leben anhand typischer kleiner Geschichten zu erzählen. Meist sind es humorvolle Anekdoten; doch selbst den weniger schönen Seiten ihres Lebens kann sie mit erfrischender Offenheit und herzhafter Wortwahl die Schwere nehmen. Etwa, wenn sie ihren Vater eine «Wanderniere» nennt, denn er wechselte öfters die Arbeitsstelle. Die häufigen Schulwechsel seien für sie und ihre Geschwister «nicht so lustig» gewesen, sagt sie. «Aber ich habe etwas gelernt: Man muss sich anpassen und dann gefällt es einem. Mir gefällt es heute überall.» Nebenher betrieben die Eltern einen kleinen Bauernhof mit ein bis zwei Kühen und Kälbern. Sie erinnert sich mit Begeisterung an ihre Ferien im Toggenburg, in die sie mit Traktor, Anhänger und Kuh gefahren sind: Mein Vater hat auf dem Anhänger eine Wand mit Brettern gemacht, Matratzen hingelegt, und da lagen wir als Kinder und so fuhren wir ins Toggenburg. Die Kuh kam mit, damit die Familie immer frische Milch hatte. Alle anderen Lebensmittel haben sie und ihre Zwillingsschwester mit dem Rucksack auf die hoch oben gelegene Hütte getragen, darunter auch die grossen Brotlaibe, die es heute nicht mehr gibt. Das sei die schönste Zeit ihres Lebens gewesen, sagt Elisabeth Brunnschweiler.

Die unbeschwerte Kindheit war abrupt zu Ende, als der Vater 1963 bei der Arbeit verunglückte – im selben Jahr, in dem John F. Kennedy erschossen wurde. «Mein Vater starb im Juni, der Kennedy im November und wissen Sie was? Mein Vater glich dem Kennedy vom Gesicht her, und beide waren Ende 40.» Danach kamen sie und ihre Zwillingsschwester in ein Kinderheim nach Pfäffikon ZH. «Die Heimmutter war eine Hexe. Hatten wir etwas Schönes angezogen, mussten wir das wieder ausziehen und etwas anderes anziehen, die hat uns das missgönnt.» Es folgten angenehmere Heimleiter, die Zwillinge freuten sich über das Privileg eines Doppelzimmers und traten bei Schultheateraufführungen als tanzende Kessler-Zwillinge auf, begleitet von Jubel und Applaus. Später gingen die Mädchen als Hausangestellte bei Familien in Stellung. Als junge Frau arbeitete Elisabeth einige Zeit im Kantonsspital Glarus. Eine Begebenheit ist ihr unvergesslich: Zu ihren Aufgaben gehörte es, verstorbene Patienten für den Sarg vorzubereiten. „Einmal haben wir vergessen, die Zähne in den Mund zu stecken, da musste ich mit diesen Zähnen in die Leichenhalle und klopfen und dann dachte ich: Wer kommt denn, wenn ich klopfe? Da ist ja ein Mann, der Dienst hat, weil es kommen immer wieder Tote, nicht hereinspaziert aber gebracht. Ich sage Ihnen, solche Angst hatte ich noch nie in meinem Leben wie damals!“

Etwa in dieser Zeit lernte sie bei einer Jugendgruppe einen jungen Mann kennen. Er absolvierte gerade die Ausbildung zum Briefträger und war voll im Prüfungsstress. Ausserdem war er kein Bauer – ein schweres Manko in den Augen der jungen Frau, die in Erinnerung an ihre eigene glückliche Kindheit auf dem elterlichen Hof auf einen Bauern gehofft hatte, aber: «Damals gab's diese Sendung noch nicht, Bauer sucht Frau, und dann ist er gekommen», sagt sie mit neckischem Seitenblick auf Otto. Inzwischen sind sie seit 42 Jahren glücklich verheiratet, haben vier Kinder und sechs Enkelkinder.

Elisabeth Brunnschweiler könnte noch weitere prägnante Geschichten aus ihrem Leben erzählen, aber es wird Zeit, in die Tagesbetreuung zu gehen. Sie malt gerade etwas, vielleicht einen Stern, so genau weiß sie es nicht mehr, es ist auch nicht so wichtig. Die Hauptsache ist: Es macht ihr Freude.

Margrit Obrist

Margrit Obrist
Bewohnerin

Margrit Obrist ist 93 Jahre alt und seit drei Jahren im süssbach. Sie hofft, eines Tages ihren Mann …

Margrit Obrist ist 93 Jahre alt und seit drei Jahren im süssbach. Sie hofft, eines Tages ihren Mann wiederzusehen, der vor 25 Jahren gestorben ist. So ganz sicher ist sie sich aber nicht, ob das klappt.

Manchmal ist das Glück nur einen Katzensprung entfernt. Bei Margrit Obrist war es der Junge, der junge Mann, der ebenfalls in Rüfenach bei Brugg aufwuchs, nur ein paar Häuser entfernt. Als das erste Kind unterwegs war, heirateten sie. Das war 1949. Es folgten drei weitere Kinder, insgesamt vier, zwei Buben, danach zwei Mädchen. Noch heute, 2022, ein Vierteljahrhundert nach seinem Tod, sagt Margrit Obrist: «Er ist mir alle Tage noch präsent. Ja, das ist ewige Liebe, ich hätte wieder heiraten können, aber ich wollte nicht. Ich dachte immer, so einen, wie ich gehabt habe, bekomme ich nicht mehr und einen anderen will ich nicht.» Am schönsten waren immer die gemeinsamen Ferien: «Da konnten wir alles hinter uns lassen und haben uns wiedergefunden.» Die Flitterferien verbrachte das junge Paar in Italien und später, als die Kinder aus dem Haus waren, fuhren sie oft nach Jugoslawien zum Baden.

Margrit Obrist freut sich zwar darauf, ihren Mann bald wiederzusehen, aber sicher ist sie sich nicht: «Wenn man wirklich alles glaubt, was in der Bibel steht, sehen wir unsere Leute wieder. Es kann doch nicht alles erlogen sein. Ich würde es gern wissen, aber niemand kann uns etwas sagen.»

Doch obwohl ihre Singstimme nicht mehr zum Einsatz kommt und auch das Turnen allmählich mühsam wird, hat sie viel Freude im Leben. In erster Linie sind das natürlich ihre Kinder, die sieben Grosskinder und die Urgrossenkel. Aus allen ist etwas geworden; ein Grosssohn hat es sogar zum Botschafter von Kanada in Ghana gebracht, wo demnächst das 11. Urgrossenkelchen zur Welt kommt. Sie kann sich auch über die kleinen Dinge des Alltags freuen, etwa über die Runde, die sich regelmässig zum Jassen und Reden trifft. Und sie hat noch einen Wunsch: «Ich möchte erleben, dass auch aus den Urgrosskindern etwas wird.»

Jeanne Schär

Jeanne Schär
Bewohnerin

Jeanne Schär hat in der Metzgerei ihres Mannes gearbeitet und nebenher acht Kinder grossgezogen. …

Jeanne Schär hat in der Metzgerei ihres Mannes gearbeitet und nebenher acht Kinder grossgezogen. Ihren herzerfrischenden Humor hat sie in nahezu 100 Lebensjahren nicht verloren, und mit den etwas eigenwilligen Überzeugungen ihres Mannes konnte sie liebe- und humorvoll umgehen. Im süssbach ist sie seit 12 Jahren.

Jeanne Schär würde man heutzutage eine Powerfrau nennen, sie selbst allerdings macht keinerlei Aufhebens um das, was sie geleistet hat: acht Kinder grossgezogen, gleichzeitig in der Metzgerei ihres Mannes gearbeitet und gelegentlich noch Kurse an der Fachschule besucht. «Aber das waren für mich Ferien», sagt sie. Wie sie das alles geschafft hat? «Das weiss ich nicht mehr». Aber es spielt ohnehin keine Rolle, entscheidend ist, dass sie eine grosse glückliche Familie waren. Inzwischen sind noch 16 Enkel und 12 Urgrosskinder dazugekommen. Ihr Mann ist schon vor über 30 Jahren gestorben. Er war schwer krank, musste öfters ins Spital – aber seine Frau, obwohl sie den Führerschein hatte, durfte ihn nicht fahren. «Eine Frau hat nichts zu suchen am Steuer», verkündete er und forderte einen männlichen Fahrer, den sie für ihn organisierte. «Mein Mann war sehr gut, aber er hatte einen Berner Grind», kommentiert Jeanne Schär lachend die Eigenheiten ihres Mannes. Als er starb, überstand sie die Beerdigung ohne Tränen – «ich will doch nicht eine Schau bringen, wenn alles zuschaut» –, abends kam der Zusammenbruch und am nächsten Morgen stand sie wieder in der Metzgerei.

Sie hat früh gelernt, sich zu arrangieren, daheim und in der Schule. Die siebte Klasse, die sie in Gipf-Oberfrick (AG) verbrachte, war schlimm, erzählt sie. «Wissen Sie, ich bin reformiert und der Lehrer war katholisch, und ich konnte das katholische Vaterunser nicht und dann gab es immer Ohrfeigen.» Den Eltern davon zu erzählen, hätte nichts genutzt. Also hat sie die Zähne zusammengebissen und sich aufs Haushaltsjahr gefreut. Eigentlich wäre sie gerne Damenschneiderin geworden, aber die Eltern hatten zu wenig Geld. «Also musste ich schon mit 15 für eine Familie kochen. Am Morgen Rösti, zum Mittag Salzkartoffeln und zur Nacht Rösti. Das hatten alle Bauern. Rösti und Rösti und Rösti, aber man machte sie gut.»

Ihre eigenen Kinder haben alle eine Ausbildung, und obwohl Jeanne Schär natürlich niemals damit plagieren würde, merkt man: Sie ist stolz auf ihre fünf Töchter und drei Söhne. Eine Tochter lebt in Thailand, alle anderen sind in der Nähe und alle zusammen kümmern sie sich nach Kräften um ihr Wohlergehen. Auch sie sind stolz auf ihre starke, lebenslustige Mutter, die früher gerne Handarbeiten gemacht hat, Kreuzworträtsel lösen kann und zusammen mit ihren Freundinnen Gesellschaftsspiele macht. Pragmatisch bewältigen die patenten Damen gemeinsam die Malaisen des Alters: Jeanne Schär liest vor, weil sie gute Augen hat, eine Freundin kann noch gut marschieren und hilft ihr beim Überwinden der Terrassentür.

Heutzutage, stellt die 99-Jährige fest, gehen die jungen Frauen einfach, wenn ihnen etwas nicht passt. Sie sieht das kritisch. «Man kann nicht davonlaufen, wenn man Kinder hat.» Sie selbst ist nie davongelaufen. Sie hat gelacht.

Daniel Schatzmann

Daniel Schatzmann
Bewohner

Daniel Schatzmann, 84 Jahre alt, ist auffallend sportlich, schlank, körperlich und geistig in …

Daniel Schatzmann, 84 Jahre alt, ist auffallend sportlich, schlank, körperlich und geistig in Topform. Er ist 2014 nach einer Streifung zusammen mit seiner Frau Rosmarie in den süssbach gezogen. Inzwischen ist er Witwer und gesundheitlich wieder so fit, dass er auch selbstständig in einer Wohnung leben könnte. Will er aber nicht: «Mir gefällt das hier.»

Daniel Schatzmann ist unverwüstlich und zutiefst lebensbejahend, wie so viele seiner Generation. Mehrere Herzinfarkte und andere Schicksalsschläge konnten den gläubigen Christen nicht aus der Bahn werfen und ihm auch nicht die Freude an der sportlichen Bewegung nehmen «Ich stehe jeden Morgen um 6 Uhr auf. Zuerst trinke ich ein Glas lauwarmes Wasser wegen dem Kreislauf, mache meine Übungen, dann gemütlich frühstücken und nachher spazieren gehen, nachmittags sowieso immer. Ich muss mich einfach in Bewegung halten, dann ist mir wohl.» Sportlich war er schon immer. Kunstturnen, kegeln, joggen, wandern, bergsteigen – und das alles neben seinem Beruf als Briefträger! Und die Sommerferien nutzte er, um das Bedürfnis nach Bewegung mit dem Bedarf, ein Zubrot zu verdienen, zu kombinieren: Er arbeitete bei einem Bauern in Hausen bei Brugg und bekam als Lohn im Herbst zwei Säcke Kartoffeln. Ist das nicht ein bisschen wenig? So fragt man aus heutiger Sicht. «Ja, das ist ein bisschen wenig. Ich meine aber, ich bekam dort immer Essen und zwischendurch Eier und manchmal ein bisschen Fleisch und so. Das war schon gut so.»

Er meistert das Leben mit allen Höhen und Tiefen, klaglos und pragmatisch. So wie sein Vater, der nach dem Freitod seines jüngsten Sohnes, also Daniels Bruder, nahezu erschreckend realistisch reagierte: «Was passiert ist, ist passiert, was willst du tun? Es ist jetzt einfach so und fertig.» Daniel Schatzmann konnte mit dieser Haltung sogar den plötzlichen Tod durch Herzschlag seines jüngeren Sohnes bewältigen und andere Tiefschläge des Lebens. Als seine Frau schwer erkrankte, verzichtete er auf die Spitex: «Hab eingekauft, gekocht und gewaschen und was so anfällt im Haushalt.» Bis er selbst eine Streifung erlitt und zusammen mit seiner Frau in den süssbach zügelte. Hier geniesst er die gute Aussicht, die er vom vierten Stock aus auf den Bruggerberg hat, und: «Ich habe hier viele Freunde. Freundlichkeit kostet ja nichts. Und wenn Gedanken kommen, lasse ich nur die schönen zu, die anderen lasse ich sein. Dann bin ich glücklich.»

Eine wesentliche Säule seiner Gelassenheit und Lebensbejahung ist sein Glaube. Er ist reformiert, hat jedoch eine recht entspannte Haltung gegenüber den unterschiedlichen Konfessionen und nahm gelegentlich auch an katholischen Gottesdiensten teil. «Ich sage mir immer, wir haben nur einen Herrgott, wieso soll ich das nicht machen?» Gute Frage. Die Antwort können ihm wohl nur Menschen geben.

Damaris Zuckschwert

Damaris Zuckschwert
Mitarbeiterin Reinigung

«Ich habe zwei Zuhause», sagt Damaris Zuckschwert. Tansania ist ihr erstes Zuhause, und die Schweiz, …

«Ich habe zwei Zuhause», sagt Damaris Zuckschwert. Tansania ist ihr erstes Zuhause, und die Schweiz, wo sie seit 2003 lebt, ihre zweite Heimat. Es gebe da allerdings einen grossen Unterschied. 

Seit vier Jahren arbeitet Damaris Zuckschwert im süssbach und es gefällt ihr noch immer so gut wie am ersten Tag. Während sie das erzählt, strahlt sie, wie man es gelegentlich bei Ehepaaren sieht, die nach Jahrzehnten der Ehe noch wirken wie nach dem ersten Kuss. Sie arbeitet im Reinigungsteam und sorgt dafür, dass die Zimmer der Kundinnen und Kunden makellos sauber sind, ebenso die Praxis- und Behandlungsräume im Medizinischen Zentrum. Mit der Sauberkeit ist es ja so, dass sie in der Regel erst dann ins Bewusstsein gelangt, wenn der Blick auf einen Fleck, eine Staubfluse fällt. Im süssbach dagegen gibt es einfach keinen derartigen Blickfänger, weil alles wie selbstverständlich sauber ist. Gerade jetzt, in dieser besonders hygienebewussten Zeit, ist es eine grosse Erleichterung festzustellen: Hier ist alles perfekt. Dennoch klingt es zunächst überraschend, wird aber durch den blossen Augenschein bestätigt, wenn Damaris Zuckschwert sagt: «Für mich ist die Reinigung das Paradies. Ich hatte noch nie einen so guten Job wie hier.» Ihr gefällt die Arbeit an sich, aber auch der Teamgeist und die Selbstverständlichkeit, mit der sie selbstständig und «in Ruhe» ihre Arbeit machen kann. Das heisst: Niemand redet ihr rein, und ihre Chefin packt mit an und ist als Ansprechpartnerin präsent, wenn Fragen auftauchen. Das klingt angenehm unaufgeregt, so wie man es sich als Mitarbeiterin nur wünschen kann. Damaris Zuckschwert hat jedoch lange genug in anderen Firmen gearbeitet, um zu wissen, dass ein solch motivierendes Arbeitsklima nicht überall verbreitet ist. 

Vielleicht strahlt Damaris Zuckschwert deshalb so herzerfrischend, weil sie weiss, dass es ein Glücksfall und keine Selbstverständlichkeit ist, wenn es im Leben rundläuft. Als Zehnjährige ist sie mit ihren Eltern und Geschwistern von Kenia nach Tansania gezogen, und 2003 kam sie in die Schweiz, da war sie 25. Sie ist verheiratet; ihr Mann hat früher bei der Firma Zuckschwert Natursteinwerk in Staufen AG gearbeitet (er ist unterdessen pensioniert), und der 16-jährige Sohn absolviert gerade seine Lehre dort. Einmal im Jahr besucht sie ihre Mutter in Tansania, und ihre Schwester samt Sohn hat sie schon dreimal in der Schweiz besucht. 

Worin besteht der grösste Unterschied in der Mentalität oder Lebensweise zwischen Kenia und der Schweiz? «Das ist total verschieden», antwortet Damaris Zuckschwert und lacht. «Ich bin glücklich hier, jetzt ist das hier meine Heimat. Schweiz und Afrika, beides, eines allein geht nicht.» Der wesentliche Unterschied bestehe im Zusammenleben: In Kenia sei man praktisch nie allein, sondern immer mit der grossen Familie zusammen, mit Nachbarn und Freunden. In der Schweiz dagegen lebten viele Menschen allein und hätten meistens eine kleine Familie. «Hier, das gefällt mir», sagt sie. «Am Anfang war es nicht einfach, aber jetzt ist es gut.»

Ernesto Tschumi

Ernesto Tschumi
Bewohner

Eigentlich heisst er Ernst, aber das passt wirklich nicht zu dem allseits beliebten Spassvogel, …

Eigentlich heisst er Ernst, aber das passt wirklich nicht zu dem allseits beliebten Spassvogel, daher nennen ihn alle Ernesto. Er ist weit gereist und hat viel zu erzählen. In Mexiko erschoss die Polizei vor seinen Augen drei Geldräuber, und plötzlich spürte er selber einen Gewehrlauf im Rücken ...

Cancún in Mexiko, eine Stadt an der Küste der Halbinsel Yucatán, zählt zu den beliebtesten Ferienzielen weltweit. Auch Ernesto Tschumi genoss seinen Karibikurlaub, das luxuriöse Hotel, den Whirlpool, die traumhaften Sandstrände. Bei einem Spaziergang ausserhalb des Hotels wurde er Zeuge eines Raubüberfalls: «Die Polizei hat alle drei erschossen, sie lagen vor meinen Füssen. Das Blut lief mir über die Schuhe. Die Polizei hat gemeint, ich sei auch beteiligt, sie drückten mir die Gewehre in den Rücken.» Das traumatische Erlebnis hat seine Reisefreude nicht beeinträchtigt. Er war mehrmals in Bulgarien, Ägypten, Jamaika, Guatemala. Auf den Seychellen ist er einmal fast ertrunken: «Ich kann ja nicht schwimmen, wir hatten kein Schwimmbad auf dem Bauernhof», erklärt er. 

Der Bauernhof, das ist die Sennhütte in Effingen, gute zwei Stunden Fussweg von Brugg entfernt. Heutzutage ist sie ein beliebtes Ausflugslokal mit Herberge. Als Ernst Tschumi dort als Zweitjüngster von acht Geschwistern aufwuchs, herrschte jedoch bittere Armut. Mangels Velo lief er eineinhalb Stunden zu Fuss in die Schule und wieder zurück, auch im strengsten Winter. Er erinnert sich an einen Skiausflug mit der Klasse: «Ich hatte nicht einmal Skier. Sie haben ein großes Feuer gemacht und die meisten von meinen Freunden hatten Cervelat dabei. Ich hatte nicht einmal einen Apfel. Das wurmt mich heute noch.» Nach der Sekundarschule arbeitete der sportliche und immer zum Scherzen aufgelegte junge Mann bei der Brief- und Paketpost in Brugg und Windisch, später im Bewachungsgewerbe bei der Securitas. 1970 heiratete er seine grosse Liebe Ruth, sieben Jahre später kam Stefan auf die Welt. Seine Frau starb mit gerade mal 43 Jahren, und von da an kamen die Einschläge immer näher: Zwei seiner Geschwister starben, mehrere gute Freunde, seine geliebten Katzen. Die Gesundheit macht ihm zunehmend zu schaffen; im Spital hat man ihn schon mehrmals aus dem Koma zurückgeholt. Er erinnert sich, wie er einmal in einem Raum voller Rauch lag: «Unser Herrgott sass in einem Stuhl, da habe ich geredet mit ihm und er hat die Hand ausgestreckt und die Lebensstrahlen gingen zu mir. Da erwachte ich wieder. Ja, ich hatte immer drei Engel.» 

Einer der Engel hat ihn offensichtlich mit unerschütterlichem Humor und Menschenfreundlichkeit beschenkt. Ernesto Tschumi ist bereits über Brugg hinaus bekannt als «der Tschumi», der oft beim Wunschkonzert der SRF-Musikwelle anruft, seinen Freunden und Mitbewohnern zum Geburtstag gratuliert und Geschichten von sich und Kater Simba erzählt. Am Todestag seiner Frau grüsst er sie und seine Katzen im Himmel. Einen richtigen Fanclub hat er schon bei den Hörerinnen und Hörern der Musikwelle. Zu den grössten Fans gehören seine Enkelkinder, ein Bub und ein Mädchen. «‹Opi, hab dich gern› sagen sie immer». Ernesto Tschumi strahlt übers ganze Gesicht. Seinen Enkeln wird er wohl auch drei Engel mit auf den Weg geben. 

Kurt Bossart

Kurt Bossart
Bewohner

Kurt Bossart, Jahrgang 1945, lebt seit Juni 2019 im süssbach. Hier hat er endlich Zeit, seine …

Kurt Bossart, Jahrgang 1945, lebt seit Juni 2019 im süssbach. Hier hat er endlich Zeit, seine zahlreichen Interessen zu pflegen.

Fremdsprachen sind die grosse Leidenschaft von Kurt Bossart. Wenn er aufzählt, welche Sprachen er spricht oder zumindest versteht oder sie gerade lernt, von welchen er Grundkenntnisse hat oder die Alphabete lesen kann, kommt man aus dem Staunen nicht raus. Schweizerdeutsch, Schriftdeutsch, Französisch, Italienisch, Englisch, Spanisch und Portugiesisch, etwas Albanisch und Kroatisch. «Natürlich auch Latein, Griechisch und Bibelhebräisch», fügt er hinzu. Inzwischen hat er angefangen, Russisch und Ivrit zu lernen, modernes Hebräisch. Gefragt, wie er es schafft, sich das alles zu merken, antwortet er: «Man muss viele Wörter kennen und die ganze Grammatik. Wenn Sie eine Sprache lernen, müssen Sie immer auch die Grammatik lernen.» 

Das Thema Sprachen durchzieht das Leben von Kurt Bossart wie ein roter Faden, ebenso seine Ordnungsliebe und Disziplin. Die hat er von früher Kindheit an gelernt. Geboren ist er in St. Gallen. Sein Vater sei streng gewesen. Der Vater arbeitete im Schweizer Verlagshaus und redigierte das ehemals bekannte NSB Universal-Lexikon der Buchreihe Neue Schweizer Bibliothek. Auch Kurt war hier zeitweise beschäftigt. In Rapperswil absolvierte er eine KV-Lehre (kaufmännischer Verband) bei der Firma Geberit und einen Fremdsprachenaufenthalt in Neuenburg, «um meine Französischkenntnisse zu verbessern.»

30 Jahre lang war er Beamter bei der Sozialversicherungsanstalt des Kantons Zürich. Er arbeitete zunächst im Sekretariat und dann bis zu seiner Pensionierung als Sachbearbeiter in der Rechnungskontrolle. Sechs Jahre war er stellvertretender Abteilungsleiter. Kurt Bossart war zehn Jahre lang verheiratet, er hat zwei Söhne und viele Freunde und Bekannte. Zusammen mit seiner Lebensgefährtin, die vor 13 Jahren verstorben ist, lebte er in einem Reiheneinfamilienhaus in Fislisbach (AG). Im Moment kann er seine Söhne aufgrund der coronabedingten Kontaktbeschränkung nicht so oft sehen, doch er macht das Beste daraus.

Genauer gesagt: Er veranstaltet ein- bis zweimal im Monat ein Wunschkonzert auf der Station. Denn Kurt Bossarts zweite grosse Leidenschaft ist die Musik – zur Freude aller im süssbach. Der Pianist spielt 36 Stücke auswendig, darunter Ballade pour Adeline, bekannt geworden durch Richard Clayderman, und Für Elise von Beethoven: «Ich spiele vor allem gerne Oldies, Evergreens von früher, auch Lieder von ABBA und den Beatles.» Sein Lieblingslied ist Yesterday: 

«Yesterday, all my troubles seemed so far away …» 
Gestern schienen all meine Probleme so weit weg zu sein ...

Ein schönes Lied, ein trauriges Lied. Glücklicherweise trifft es nicht auf die gegenwärtige Lebenssituation des beliebten Süssbach-Pianisten zu, denn er fühlt sich ausgesprochen wohl hier: «Es ist eine gute Einrichtung, die Pflege und das Essen sind gut und das Zimmer ist schön. Ich kenne viele Leute; man fühlt sich nicht allein.» 

Sprachen und Musik sind nicht die einzigen Interessen von Kurt Bossart. Er beschäftigt sich mit Politik und Religion, nutzt den Computer zum Schreiben und Sprachenlernen, er jasst und: «Ich würde auch gern Schach spielen, aber ich habe keinen Gegner. Ich war früher im Schachclub Rapperswil.» Auch im Kirchenchor Höfe (SZ) war er elf Jahre lang aktiv, und er will so gerne wieder singen, aber ... Corona belastet praktisch jeden, auch einen so engagierten und geselligen Menschen wie Kurt Bossart. Zum Glück kann er sich gut beschäftigen: Vokabeln lernen geht immer, in english, en français, in italiano, по-русски.

Andrea Schmid

Andrea Schmid
Stationsleiterin

Andrea Schmid hat vor zwölf Jahren als Fachfrau Gesundheit im süssbach angefangen und wurde …

Andrea Schmid hat vor zwölf Jahren als Fachfrau Gesundheit im süssbach angefangen und wurde innerhalb von nur zehn Jahren Stationsleiterin. Von Anfang an war ihr klar, dass sie in der Langzeitpflege arbeiten will: «Ich finde es wichtig, den Menschen als Ganzes kennenzulernen.» 

Nach der Schule hat Andrea Schmid in verschiedene Richtungen geschnuppert, von der Floristik bis zum Hochbau, auch in der Pflege. Im süssbach wusste sie nach nur einem Tag: Ja, das ist es. «Nah am Menschen» will sie arbeiten, und viel näher als in der Langzeitpflege kann man jemandem beruflich wohl kaum kommen. Gleich nach ihrer Ausbildung zur Fachangestellten Gesundheit im Gesundheitszentrum Fricktal begann sie im süssbach zu arbeiten. Das war genau ihr Wunsch gewesen: in einem eher kleinen Haus zu arbeiten, in idealer Entfernung zu ihrem Wohnort im Fricktal. Inzwischen hat sich die Anzahl der Stationen hier allerdings mehr als verdoppelt, doch Andrea Schmid ist flexibel und weiss die positiven Seiten der Vergrösserung zu schätzen. Die Kunden haben jetzt die Wahl zwischen verschieden ausgestatteten Häusern, und: «Im Kern ist es immer noch der süssbach!» Es sei spannend, an den mit der Erweiterung verbundenen neuen Konzepten mitzuarbeiten. Im Laufe der Jahre absolvierte sie die Fachvertiefung Langzeitpflege und Betreuung und ist inzwischen Stationsleiterin im süssbach – eine Arbeit, die ihr liegt, weil sie damit auch planerisch-gestalterisch gefordert ist. Gleichzeitig legt sie Wert darauf, auch Zeit mit den Kunden verbringen zu können – 26 sind es auf ihrer Station –, mit ihnen ins Gespräch zu kommen, etwas über ihre Biografie zu erfahren. Ein weiterer Punkt, den sie spannend findet, ist das Thema Multimorbidität, der in der Langzeitpflege zunehmend von Belang ist, weil die Menschen heutzutage möglichst lang und auch gut daheim versorgt werden. Gehen sie aus aktuellem Anlass, sei es ein Knochenbruch oder der Tod des Partners, ins Pflegeheim, ist es nicht wie im Akutbereich damit getan, den Knochenbruch zu versorgen, denn in der Regel kommen alterstypische Krankheiten dazu. In einem therapeutisch gut ausgestatteten Haus wie dem süssbach lässt sich auch dann das Befinden der Kunden durchaus noch verbessern. Die Kunst und die Herausforderung ist, das zu verstehen und anzuwenden innerhalb des komplexen Geflechts aus Biografie, Persönlichkeit, Krankheiten, Therapien und persönlicher Situation jedes Kunden. Andrea Schmid: «Ich möchte, dass sie es gut hier haben. Sie sollen das Leben geniessen können.»